Das muss man gesehen und gehört haben!
Erneut ist es dem Intendanten der FREE OPERA COMPANY ZÜRICH, Bruno Rauch, gelungen, ein kaum mehr gespieltes Werk für seine jährliche Produktion auszugraben, dem Publikum mit seiner Bearbeitung zugänglich zu machen und für einen äusserst vergnüglichen, bereichernden Opernabend zu sorgen. CRISPINO E LA COMARE, ein Gemeinschaftswerk der beiden Komponistenbrüder Federico und Luigi Ricci, mit dem Libretto von keinem Geringeren als Francesco Maria Piave (er verfasste 10 Libretti für Giuseppe Verdi) ist eine augenzwinkernde Parabel über Aufstieg und Fall eines einfachen Schusters (hier Reinigungsfachkraft in einem Krankenhaus), eine Persiflage auf Ärzteschaft und Profitgier. Da in diesem komisch-fantastischen Melodram keine historischen Persönlichkeiten oder anderweitige konkrete Zeitbezüge vorkommen, lässt sich die Story unbeschadet in die Jetztzeit übertragen. Und genau dies hat der Intendant Bruno Rauch (Regisseur, Dramaturg und Bühnenverantwortlicher in Personalunion) getan. Weg vom Platz in Venedig, rein in ein stilisiertes Krankenhaus, wo sich zwielichtige Ärzte um Profit, Karriere, den Platz in der Hierarchie und Liebesgunst streiten. Verbunden wird dieses Intrigenspiel der Ärzte mit dem Schicksal des ganz zuunterst in der gesellschaftlichen Rangordnung stehenden Putzmanns Crispino und seiner Gattin, die, um das bescheidene Haushaltseinkommen aufzubessern, passenderweise Ärzte-Groschenromane zu verkaufen versucht, ziemlich erfolglos. Doch wie ein Deus ex machina erscheint „La Comare“, die Donna Giusta, die Crispino auf einen Schlag reich macht, wenn er sich als Arzt ausgibt und den Kurpfuschern im weissen Kittel Paroli bietet. Diese geheimnisvolle Dame ist jedoch niemand anders als der Tod. Immer wenn sie hinter einem Menschen auftaucht (nur für Crispino zu sehen), wird dieser sterben, egal wie krank oder gesund er ist. Mit diesem Wissen nun macht Crispino Karriere, heilt einen mit dem Motorrad Verunfallten, den die Klinikärzte schon aufgegeben haben, mit etwas Wein, Salami und Broccoli und geniesst fortan enormes Ansehen. Doch der Reichtum steigt ihm und seiner Frau zu Kopf, Arroganz und Konsumsucht folgen, bis auch ihn La Comare ins Totenreich führt, ihm die Endlichkeit des Lebens und ihre Macht darüber vor Augen führt. Crispino verspricht Läuterung und bittet um Aufschub. Mehr sei nicht verraten.
Selbstverständlich ist die Bühne im Theater im Seefeld nicht mit komplexer Bühnentechnik gesegnet. Doch die Inszenierung schafft es mit kluger Gestaltung und einfachen Mitteln für das passende Ambiente zu sorgen. Da sind einige mobile Würfel und Quader, verschiebbare Paneele, die wie von Zauberhand gezogen werden (natürlich von den Sängerinnen und Sängern) und eine Treppenkonstruktion auf der Vorbühne. Dank der fantastischen, spielfreudigen Truppe von Sängerinnen und Sängern und der die Charaktere intelligent und sublim zeichnenden Personenführung wird daraus pralles, spannendes Musiktheater, das über den knapp dreistündigen Abend (inklusive Pause) einen nie abbrechenden Spannungsbogen legt.
Peter Kubik glänzt mit seinem fantastisch schmiegsamen Bariton als Crispino. Dazu gesellt sich auch eine bewundernswerte körperliche Agilität, z.B. wenn er den Geldkoffer der Comare öffnet und sich über den Segen freut wie ein Kind, strampelnd auf dem Rücken liegt, sein Glück kaum fassen kann. Später dann spielt er den arroganten Emporkömmling, sich aufgeblasen über die Kollegen mokierend. Herrlich auch, wie er zu Beginn – mit Klobürste und edlem Staubwedel ausgestattet – seinen Erfolg erträumt. Mit fantastischer Geläufigkeit meistert er die an Rossinis oder Donizettis opere buffe gemahnenden Prestissimo-Passagen. Das Ohr und das Herz des Stimmfetischisten vermag Sara Bigna-Janett als Crispinos Gemahlin Annetta zu erquicken. Welch messerscharfe Stakkati in den Koloraturen, welch höhensichere Attacke, welch pralles Spiel mit Stimme und Körper! Das Krönen der Finali mit ihren sauber durchdringenden Spitzentönen führt zu Gänsehauteffekten! Zum Niederknien! Sowohl als Verkäuferin von Groschenromanen, als auch als vom Konsumrausch infizierte Neureiche mit den vier TrägerInnen, welche ihr die Gucci- und Dior-Tüten von der Einkaufstour nach Hause tragen. Wunderbar differenziert gezeichnet sind die Dottori des Krankenhauspersonals. Da ist der arrogante Klinikdirektor Asdrubale, der vom Bassbariton Tobias Wurmehl glaubhaft (und fast zu stimmschön) verkörpert wird. Genau gezeichnete darstellerische Porträts und agile, wunderbar timbrierte Stimmen bringen die beiden Baritone Gergely Kereszturi (Dottore Mirabolano) und Andrejs Krutojs (Dottore Fabrizio) mit für ihre Rollen der auf profitabler Medikamentenherstellung, ausufernder Rezeptausstellung und speichelleckender Ambition ausgerichteten Spitalärzte. Ganz am Rande ist da natürlich noch, wie es sich für eine komische Oper aus dieser Zeit gehört, eine Liebesgeschichte. Lisette (mit aparter Sopranstimme: Alicia Martinez), die – vermeintlich – todkranke Patientin, wird vom Klinikdirektor begehrt, vor allem wegen ihrer Mitgift. Doch der junge Assistenzarzt Ernesto (Livio Schmid) hat etwas dagegen, da er sich selbst unsterblich in Lisetta verliebt hat und dieser Liebe mit seiner stimmschön vorgetragenen Romanze glühenden Ausdruck verleiht. Sein kraftvoller, ebenmässiger Tenor vermag zu begeistern, erst recht im aus Bellinis LA SONNAMBULA eingefügten Liebesduett Prendi l’anel che ti dono, in welchem die beiden Stimmen von Alicia Martinez und Livio Schmid aufs Wunderbarste verschmelzen. Solche so genannte Kofferarien (oder wie hier Duette) in Opern einzufügen ist legitim und war bis Mitte des 19. Jahrhunderts gang und gäbe. Und da Lisette als Patientin eh immer im Nachthemd zu sehen ist, liegt nichts näher als LA SONNAMBULA. Die zweite tenorale Rolle der Oper ist dem Unfallopfer (und Oberpfleger des Spitals) Bortolo anvertraut, den Timothy Löw mit einnehmender Behäbigkeit verkörpert.
Bleibt die zweite Hauptperson der Oper, La Comare – la morte. Lisa Mays erster Auftritt hinter den sich öffnenden Paneelen ist ein kleiner coup de théâtre, mit einfachen, aber effektsicheren Mitteln. In ihrer eleganten, antiquierten Robe wirkt sie tatsächlich wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Sie gestaltet die Rolle mit vornehm und zurückhaltend geführtem, rein und schön gefärbtem Mezzosopran. Gerade dadurch, dass sie nicht forciert oder exaltiert phrasiert, bewirkt sie eine subtlile, fast unfassbare Dämonie.
Grossen Anteil an der Lebendigkeit der Theatralik haben die Spiel und Musik bewundernswert präsent unterstützenden Sängerinnen und Sänger Mirjam Fässler, Johanna Kulke, Jonah Schenkel, Michael Schwarze und Arthur Baldensperger, welche als Chor Mitarbeiter des Spitals darstellen.
Die Musik der Brüder Ricci (ihre hoch interessanten Biografien kann man im exzellent verfassten Programmheft nachlesen, ebenso wie das Rezept für das von den Ärzten gepuschte Allheilmittel Theriak!) ist von grosser melodischer Eingängigkeit und tänzerischen Rhythmen geprägt. Dies vermögen das Streichquartett, der Kontrabass und die sieben Holz- und Blechbläser unter der prägnanten, grossartig mit den Solisten mitatmenden Leitung von Davide Fior (der von Annetta verständlicherweise angemacht wird, um die Eifersucht ihres Gatten zu wecken) wunderbar umzusetzen und Neugier zu wecken auf andere Werke dieser beiden zu Unrecht vergessenen Komponisten. Ein grosses Lob gebührt insbesondere der Konzertmeisterin Anna Brunner, welche immer wieder herausragende solistische Passagen zum Erklingen bringt.